Von Bagdad an die Bergstraße

Donnerstag, 29 Dezember, 2016
Echo-online

Die Brüder Abdul Hakim und Kadhar Alshareefi haben sich in Deutschland gut eingelebt und sind jetzt auf Zimmersuche.
Foto: Dagmar Jährling

Von Astrid Wagner

VERTREIBUNG

HEPPENHEIM - Abduls Augen strahlen, als er Brigitte Wecht erblickt. Die Leiterin der Flüchtlingsunterkunft an der Tiergartenstraße ist längst seine Vertraute, seine Ansprechpartnerin bei Problemen. Aber auch die positiven Dinge teilt er mit ihr.

Abdul ist 20 und seit knapp einem Jahr in Heppenheim. Er kam nicht allein. Mit ihm aus Bagdad geflüchtet sind seine Brüder Khadar (19) und Walid (26). Mittlerweile sind sie nur noch zu zweit: Als es dem Vater der drei daheim im Irak gesundheitlich immer schlechter ging, ist Walid zurück, um sich um die Familie zu kümmern. Auch seine Frau und zwei Kinder sind noch dort.

GEFÜHL DER SICHERHEIT
„Gemeinsam haben wir Angst, vor den Folgen dessen, was in Berlin passiert ist. Gemeinsam ärgern wir uns über schlechtes Wetter. Hier im Camp spielt es keine Rolle, ob jemand Sunnit, Schiit, Alewit oder was auch immer ist. Glaubensfragen sind hier kein Thema,“ sagt Campleiterin Brigitte Wecht, die von allen respektiert wird. Es gibt enges Netzwerk mit der Polizei, spezielle Ansprechpartner „kümmern sich rührend“, zeigen tägliche Präsenz, es herrscht ein ständiger Austausch. Auch die stets anwesenden Security-Mitarbeiter vermitteln Bewohnern und Helfern ein Gefühl der Sicherheit. (rid)
Dass Menschen verschwinden, ist Alltag

Warum sind sie aus dem Irak geflohen ? Die Brüder hatten Angst um ihr Leben, erzählt der ältere der beiden. Sie sind Sunniten. Die einstige Elite des Irak wird zerrieben zwischen dem IS und der Regierung. Die Sicherheitsorgane sind schiitisch organisiert, der IS rekrutiert seine Mitglieder meist aus sunnitischen Arabern. Die „normalen“ Sunniten geraten zwischen die Fronten, werden von beiden Seiten verfolgt, zwangsrekrutiert, drangsaliert – auch die, die den islamistischen Terror des IS ablehnen und verurteilen wie die drei Brüder und ihre Familie.

Dass Menschen spurlos verschwinden, ist im Irak an der Tagesordnung. Seit nunmehr drei Jahren ist der Onkel des Trios unauffindbar. Immer wieder gingen Lösegeldforderungen ein. Gezahlt hat die Familie. Der Onkel blieb verschollen. Bei ihm hatten Abdul und Khadar angefangen zu arbeiten, da waren sie 12 und 13 Jahre alt. Er hatte einen Textilhandel. Im Laufe der letzten Jahre wurde die konkrete Bedrohungslage immer akuter. Monatelang trauten sich die drei nicht aus dem Haus, beschlossen dann, dem Irak den Rücken zu kehren.

Mit dem Flugzeug sind die Brüder 2015 in die Türkei geflogen. Von dort setzten sie mit einem Boot auf eine griechische Insel über. Es war ein Schlauchboot. Drei Meter lang. Es kam als Paket, sie pumpten es auf und stiegen ein – und mit ihnen 50 weitere Menschen. Männer, Frauen, Kinder. „Fahrt dort hin“, hatten die Schlepper auf einen leuchtenden Punkt in der Ferne gezeigt. Das war der Leuchtturm der griechischen Insel. Immer wieder, so erinnert sich Abdul, sei der Motor ausgefallen. Es regnete in Strömen, drei Meter hohe Wellen drohten das Boot kentern zu lassen.

Ein kleines Mädchen von sechs Jahren verlor den Halt und ging über Bord – doch die meisten im Boot hatten Angst oder konnten nicht schwimmen. Abdul gelang es schließlich, die Kleine zu retten. Er erzählt, wie er gegen die Wellen ankämpfen musste mit dem Kind im Arm, immer weiter abgetrieben wurde. Irgendwie hat er es dann doch zurück ins Boot geschafft.

In Griechenland hilft zunächst niemand

An der griechischen Küste sind die drei Brüder losgelaufen, haben sich bei der nächsten Polizeiwache gemeldet. Es war kalt. Abdul klitschnass. Doch die Beamten winkten das Trio weiter, halfen nicht. Und so blieben sie fast eine Woche auf der Insel. Lebten im Freien, Abdul wurde krank. Schließlich lösten sie für 80 Euro pro Kopf ein Ticket für die Fähre aufs Festland. Und von dort ging es weiter zu Fuß nach Mazedonien, Bulgarien, mit dem Bus nach Serbien und dann wieder zu Fuß durch Kroatien, Slowenien nach Österreich. Am 1. November 2015 kamen sie in der Erstaufnahmeeinrichtung in Viernheim an.

Nach zwei Monaten ging es für Abdul und Khadar dann Anfang Januar 2016 nach Heppenheim – das vorläufige Ende einer Odyssee. Ihre Asylanträge sind gestellt. Sie haben eine gute Bleibeperspektive. Was sie jetzt brauchen, ist eine Zukunft. Und sowohl Abdul als auch Khadar wissen: ohne eigenes Engagement wird es schwer. Aber das zeigten sie von Anfang an. Schnell haben sie sich in Deutschland eingelebt, waren von Anfang an bemüht, die deutsche Sprache zu erlernen. Sie gehen regelmäßig ins „Café Welcome“, knüpfen Kontakte. Absolvieren Sprachkurse.

Khadar besucht die Metzendorf-Schule in Bensheim. Keine zwei Monate, nachdem sie in Heppenheim angekommen waren, sind sie zu den Sportfreunden gegangen, haben sich vorgestellt und sind mittlerweile fester Bestandteil des Fußball-Teams. Was jetzt noch fehlt, um den Grundstein dafür zu legen, ist ein Praktikumsplatz für Khadar (als Koch oder Hausmeister am allerliebsten) und ein Zimmer von privat für die beiden, damit sie ungestört lernen können.